Beilage der Pommerschen Blätter für die Schule und ihre Freunde.
Jugendschriften-Warte,
Organ der vereinigten deutschen Prüfungs-Ausschüsse für Jugendschriften.
Herausgegeben vom Hamburger
Prüfungsausschuß für Jugendschriften
I. A.:
Herrn. L. Köster, Hamburg 23, v. Bssenstr. 10.
Begründet Ì893 von Paul Ziegler-Berlin.
V er antwortlicher Bedakteur :
Heinrich Wolgast,
Hamburg-Buhlsbüttel, Brombeerweg 41.
Jahres-Abonnement für 12 Nummern
1,20 Vertrieb für den Buchhandel
durch
Ernst Wunderlich in Leipzig.
No. 2.
Februar IS08,
16. Jahrgang.
Dis Privatlektüre in der Präparandenanstalt.
Chr. Tränckner-Kappeln.
Wer heute als Laie öfientlich über die Lehrerbildung in
Preußen und ihre Anstalten spricht, sehe sich wohl um und
vor: seit Erlaß der Neuen Lehrpläne vom 1. Juli 1901 ist hier
ein so gewaltiger Umschwung eingetreten, daß es Lehrern, die
unter den Begulativen und Allgemeinen Bestimmungen aus
gebildet worden sind, schwer fallen muß, sich gründlich zu
erientieren und objektiv das Neue zu werten. Die Präparanden-
anstalt ist aus einer Seminar-Vorbereitungsanstalt eine Lehrer
bildungsanstalt mit eigenen Lehrzielen, etwa gleichen Niveaus
mit der Realschule, geworden, wie das Seminar ziemlich gleich
wertig, wenn auch andersartig, neben die Oberklassen der
hohem Lehranstalten gestellt worden ist. Daher nirgends mehr
geisttötendes Wiederkauen von Volksschulstofien, ewiges kraft-
und lusterstickendes Wiederholen. Der Schwerpunkt des
Unterrichts liegt nicht mehr im Denken und Gedächtnis, son
dern in den Imponderabilien dts Gefühls und der Phantasie,
des Unterbewußten und Unbewußten.
Dazu ein lebendiges und kraftvolles Suchen und Anstreben
auch neuer Erziehungsziele. Diese soll nicht die altruistische
Ethik allein mehr vorschreiben. Neben dem kategori.schen
Jknperativ mit seinem eisernen Pflichtbegriff soll das Recht der
Persönlichkeit stehen, das Ideal einer individualistischen Ethik,
die ihre Gesetze nicht aus der Masse für die Masse, sondern
aus den tiefen Quellen kraftvoller, eigenartiger Persönlichkeiten
schöpft. Weil jeder Jüngling eine selbständig geartete und sich
entwickelnde Persönlichkeit ist, die in allem Wesentlichen nicht
von außen her, sondern von innen heraus, aus den Tiefen des
eigenen Ich bestimmt wird, darum soll neben Zucht und Zwang,
die ewig gegen die Knabentorheit auch des Jünglingsalters
nötig ist, allmählich das Prinzip freier Selbstbestimmung treten.
Es ist eben ein andrer Geist in den Anstalten und Kolle
gien wirksam. Freilich, es gibt immer noch Banausen unter
den Lehrerbildnem, die nichts vom Geist einer neuen Zeit
ahnen. Es gibt auch sehr viele von jenen braven Männern,
die sich in engen Schranken halten, um ihre Schüler zu prak
tischen und tüchtigen Männern für Leben und Schule heran
zubilden. Aber die eigentlich Führenden und Beherrschenden
sind doch andrer Art, Männer der Sehnsucht und des Glaubens,
die an jeder Jünglingsseele leise die goldenen Flügel, die den
Menschen in die Höhen der Ewigkeit und Göttlichkeit empor
tragen, zittern fühlen und mit heißem Mühen sie zu lösen und
zu stärken bestrebt sind. —
Aus diesen Gesichtspunkten heraus begreift sich die hohe
Bedeutung, die jetzt die Privatlektüre in der Präparanden
anstalt erhalten hat. Sie ist zu einem wesentHchen Teil des
Bildungs- und Erziehungsplanes geworden, während sie vor
mals kaum im Seminar, geschweige denn in der Vorbereitungs-
Mistalt dafür eine Stätte fand, jedenfalls in den wenigsten
railen, wie die Neuen Lehrpläne fordern, eine „geordnete“ war.
Wir wissen jetzt, daß, ganz abgesehen von den allgemeinen
Gesichtspunkten über den Nutzen des Lesens, der künftige
Tolkslehrer „eine ausreichende Kenntnis guter Jugend- und
Volksschriften älterer und neuerer Zeit“ (Neue Lehrpläne),
Übersicht über und Durchblick durch die nationale Literatur,
einen weiten und freien geistigen Gesichtskreis, ein allseitig
angeregtes und vertieftes Gemütsleben, einen künstlerisch
geten Geschmack, Verständnis für wissenschaftliche Probleme
end Neigung zu selbständiger Vertiefung in sie, •— der künf
tige Volkserzieher außer diesem allen auch Liebe zu dem
Volke und seinen Kindern, herausgeboren aus inniger Ver
senkung in deutschen Geist, deutsches Volkstum besitzen muß.
Und, das Wichtigere, wir tun auch danach, indem wir mit
Fleiß unsere Schüler anleiten und anhalten zu freier Bildung
ihrer selbst durch Lesen, zu freiem, ganz persönlichem Ver
kehr mit den großen Meistem unsrer Literatur. Dazu wisse»
wir uns noch mehr verpflichtet als den Volksschullehrer und
höhem Lehrer, weil wir unsern ohne Eltern, allein in ihrer
Welt stehenden Schülern außer Lehrer und Erzieher auch nook
so ein Stück Vater, also ganz selbstverständlich literarischer
Ratgeber und Kunstwart sein müssen. —
Wie nun dies? — Eine Reihe von Vorträgen und Auf
sätzen*) hat zu dieser Frage Stellung genommen, öffentlid»
als erster 1902 Reling in seiner kleinen Broschüre : Die Privat
lektüre in der Präparandenanstalt (Gotha bei Thienemanx.
0,30 M,) als zweiter 1904 ich in der fünften Abhandlung meiner
Schrift; Vom Recht der Kunst auf die Schule (Gotha bei Thiene
mann, 1,40 M). Was später hervorgetreten ist, hat m. W.
diesen beiden Vorschlägen keinen neuen Gedanken hinzugefügt,
akzeptiert oder wiederholt durchweg Relings schlichte und
praktische Gedanken und bleibt füglich mit Recht außerhalb
unsrer Betrachtung. _
Reling geht in der Weise vor, die sich in Volks- und
höheren Schulen ausgebildet und bewährt hat. Er bildet für
jede Klasse eine besondere Bibliothek. In dieser sind etwa
8 bis 10 Werke, der Kanon, in mehreren Exemplaren vorhan
den und müssen von jedem Schüler im Laufe des Schuljahres
gelesen werden, beispielsweise in Klasse I: Niebuhr Heroee-
geschichten, Ratzel Deutschland, Freytag Doktor Luther,
Scheffel Ekkehard und Freytag Ahnen Band 1—6. Bei ihr«"
Auswahl sind in erster Linie die Rücksicht auf die literariscke
Güte, didaktisch die Rücksicht auf den Unterricht im Deut
schen und in der Geschichte maßgebend. Eine Anleitung zu
rechtem Lesen, zur Führung eines Merkbuches, Besprechungea
nach der Lektüre in besonderen Stunden, bei Büchern be
lehrender Art durch den Fachlehrer, bei solchen dichterischer
Art durch den Deutschlehrer, dies alles macht diese Bücher
zum Mittelpunkt der Privatlektüre und des freien Studiunea.
Außer diesem Kanon enthält die Klassenbibliothek eine größere
Anzahl wertvoller Werke in Einzelexemplaren, die zur weitere
freien Lektüre empfohlen werden.
Was mich von Reling trennt, ist vor allem der Begriff des
Kanons. Meine Brfahrang als Lehrer und Bibliothekar, daß
es nun doch einmal bei vielen ohne Zwang nicht geht, daß
aber bei der Weise Relings, bei der ein und dasselbe Buch vox
einem Schüler um Ostem, vom andern erst um Weihnacht
herum gelesen wird, also Anleitung und Kontrolle und gemein
same mündliche und schriftliche Durcharbeitung mit und vox
allen zu gleicher Zeit unmöglich, auch mit Rücksicht auf d«
Lehrer unmöglich ist, der doch nicht alle Bücher des Kanons
gleichzeitig und jederzeit frisch und anschaulich im Kopfe
haben kann; meine Erfahrungen als Leiter einer Präparanden
anstalt, an denen überall ein häufiger Wechsel von Lehrer»
stattfindet, sodaß der einzelne kaum Zeit findet, sich in die
betr. Anstaltsbibliothek und die Sonderheiten der bez. Anstalt
einzuleben und in die in Betracht kommenden Schriften ein-
*) A nm. Vgl. Die Pädagogischen Blätter, heran sgeg.
von Muthesius, und die Mitteilungen des Landesverbandes
preußischer Lehrerbildner.