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Da lag noch alles weit wie ein Traum von gestern.
Ich dachte nicht daran, bald an das Werk zu kommen. Mit
meinen Anregungen und praktischen Vorschlägen trat ich nir
gend ins Ziel. Eine Arbeit in der Jugendschriften-Warte — Ja
nuar 1906 — war nur ein Schlag ins Wasser.
Schneller als die Hofinung kam dann die Wirklichkeit.
Den ersten Schritt tat der Verleger, den zweiten der Düssel
dorfer Ausschuß, der zur Mitarbeit und Prüfung bereit war,
ohne den Herausgebern die Hände zu binden. Und als ich
auch in Gustav Kneist einen klugen Rater und Verwirklicher
gefunden, stand bald ein Plan auf dem Papier.
Schneller als uns eigentlich lieb gewesen, gingen im Herbst
auch die ersten Wandererbände mit dem Plan von hier
hinaus. Es war keine Zeit, dem Werke die Mitarbeiter zu
werben, die doch da sein müssen, wenn der Plan ein Gebäude
werden soll. Wir mußten hoSen — wie mancher Feldherr in
alter Zeit — daß die Streiter schon kämen, wenn eist das
Kalbfell mal dröhnt und die Fahnen wehen.
Dies vorauf zu sagen, hielt ich für nötig. Schon um die
Stirnen zu glätten, die sich über die Unverschämten und Un
ersättlichen gerunzelt haben, die den anderen das Brot frech
aus der Hand nehmen. Darum danke ich dem Harausgeber
der J.-W. besonders, daß er mir erlaubte, hier von den „Wan
derern“ zu reden. Wenn ich ihn ein halb Jahr früher gebeten
hätte, da hätte er mir’s sicher nicht abgeschlagen. Doch hätt
ich daun mein eigenes Kind wohl ums Leben geredet. Jetzt,
da es erst lustig strampelt, sollen auch die Gevattern ein
geladen werden.
Wer das Vorwort und den Plan der „Wanderer“ mal
ernstlich ansieht, der muß schon finden, daß sie nicht darauf
aus sind, den Eltern und Schulen nichts mehr zu bieten als
eine neue, sichere Gelegenheit, gute Lesebücher zu kaufen.
Es hätte nicht not getan, dazu nur eine Hand zu rühren.
Dafür haben die Ausschüsse lange genug gearbeitet und über
all Kräfte geweckt, die gern und glücklich schafien.
Die „Wanderer“ wollen auch kein bloßes Dokument sein,
ein Wahrzeichen, daß unsere Arbeit zu einem bestimmten
Abschluß gekommen sei. Sondern sie sehen mit fester Hoff
nung in die Zukunft. Was so sehr nötig ist, das wollen sie
beweisen: Daß die Jugendsclrriftenfrage mehr als das ist,
was man ihr so oft vorgehalten hat, eine Frage unter vielen,
eine Frage, der man aus dem Wege gehen kann. Sondern daß
sie mitten drin steht in den pädagogischen Problemen der
Gegenwart.
Das tun sie, indem sie sich vornehmen, ein volles Rüst
zeug zu schaffen für die deutsche Arbeitsschule der
Zukunft. Soweit als diese noch einen wissenschaftlichen
Charakter haben wird. Damit bringen sie zugleich Bausteine
zu einem der geistigen Entwicklung durchaus gerechten und
darum auch vernünftigen Lehrplan: Die Lektüre, die sich bisher
nur wie eine schmückende Banke um den Unterricht legte,
wollen wir zum Ausgange aller Geisteswissenschaft machen.
Wir -wollen den literarisch-historischen Unterricht nicht ver
drängen, sondern ihm die rechte Grundlage geben, die ihn erst
möglich macht. Alles was Lehrpläne, Leitfäden und Lektionen
zwischen den Stoff und den Schüler eingeklemmt haben, das
werde weggeräumt. Gleich dem Schüler den frischen Trunk aus
reiner Quelle, den die Leute vom Fach bis jetzt sich selber
Vorbehalten haben.
Was nützt doch alles Reden über und von den Dingen,
wenn sie einer nicht selber tasten, sehen und genießen kann!
Mit vielen teilen wir den Glauben, daß rmsere Zeit nur darum
60 haltlos an ihrer Arbeit taumelt, weil sie vor lauter äußer
lichen Merkmalen und eingeprägten Kennzeichen den großen
Strom des Lebens nicht findet, der durch alle Dinge geht, und
sich darum in dem Strome nicht zu halten weiß. Es fehlte ihr
an der Erziehung zum Selbstbewußtsein. Und darum an echter
Erkenntnis und Freiheit. Mit vielem Wissen von gutgeglaubten
Ergebnissen verschlossen wir uns die Vergangenheit und ver
loren darüber das große Können, das Wesentliche unserer Auf
gabe in der Gegenwart zu ergreifen.
Nur in einer lebendigen Erkenntnis der Vergangenheit geht
uns das Bewußtsein des Eigenen auf. Ich möchte sagen: hier
allein ist Volksein und Deutschsein ein Lebendiges. Und also
in dem Weg durch die deutsche Vergangenheit allein der Weg
zu einer wesensechten und darum deutschen Erziehung.
Den Weg wollen die „Wanderer“ bahnen helfen. Wenn
sie sich also dazu nennen „acht Bücherfolgen für die deutsche
Jugend“, so sagen sie damit auch, daß sie sich zuerst an die
wenden, denen diese Jugend in die Hand gegeben ist : an das
deutsche Haus und an die Lehrer. Denn nur durch die Herzen
der Eltern und der Lehrer kommen wir zu den Kindern. Frei
und sicher müssen erst die Führer werden. Darum ist es den
Lehrern aufgegeben, für sich und an sich die Mittel zu er
kämpfen zur Selbstbefreiung.
Es ist schon oft gesagt worden, daß der Mensch von den
ersten nackten Tagen seines Lebens langsam hinauf wächst
durch alle Formen des Einzel- und Gemeindelebens zu seinen
eigenen Aufgaben. Wenn dafür ein Beweis nötig ist, so haben
wir den in der sprachlichen Entwicklung. Je mehr man die
Entwicklung der Menschheit an der Form und Sprache ihrer
Dokumente studiert, desto fester wird die Gewißheit, daß hierin
eine große Wahrheit liegt, eine Weisheit, die vor allem den
Erzieher angeht. Und denkt man sich dann konsequent in
diesen Gedanken hinein, so stürzt einem die ganze Ästhetik
der Kunstformen zusammen, die sich wie ein Drahtgehege um
unser künstlerisches und pädagogisches Wirken gestellt haben.
Da bleibt nichts übrig als die Forderung nach einer Sprache,
die wesensecht und wahr ist und dem dargestellten Leben den
allein kongruenten Ausdruck gibt.
So kamen wir zu dem Ergebnis, daß mit den hergebrachten
Sthulbegriffen „poetische Literatur“ und „Kunstwerk“ für die
W'anderer gar wenig anzufangen war. Ein Stoff ist also niemals
darauf zu untersuchen, ob er in die hergebrachten Formen
glücklich hineinpaßt, ob er ein Roman, ein Drama, eine Ballade,
ein Lied, oder weiß Gott was sonst für eine Kunstform dar
stellt. Sondern einzig darauf, ob die Form d. h. die Sprache
dem Wesen des Stoffes gerecht wird.
Im Rahmen der „Wanderer“ könnte also Gansbergs „Aus
der Urgeschichte der Menschen“ oder Lichtenbergs „Allerlei
aus dem Leben der Pflanzen“ gar wohl stehen neben dem
Simplizissimus oder der Geschichte von den Lachstälern. Denn
sie alle stellen ein Gebiet menschlichen Erlebens so dar, wie
es durch das Bedürfnis der Beteiligten geboten war.
Nicht überall reichen ja die literarischen Quellen aus, das
Leben der Menschheit, zu der sicher auch Tier und Pflanze
gehören und das Land, das sie nährt, zu studieren. Vor aller
Literatur lag eine lange Zeit, eine Zeit der Lösung des Be
wußtseins vom Unbewußtsein, der Scheidung von Innen und
Außen. Das Kind lebt darin noch, und zugleich im hellen Kreise
des Bewußtsein, durch das Licht, das aus unserm Leben in
das seinige fallen muß. Längst vergangene Kunstformen, das
Märchen, die Mythe, das Rätsel sind seinem W’^esen verwandt.
Es steht den frühen Quellen der Literatur, den reinen, gemein
menschlichen näher, als den komplizierten und differenzierten
Formen der Gegenwart. Es kommt zum Genießen nicht mit
dem unsinnigen Katechismus von kurzlebigen ästhetischen
Tagesformen. Denn sie haben in seinem Leben keine Quelle
und keinen Halt.
Ich meine, wir müßten verhüten, daß sich solche durch
unser Zutun zu früh bildeten. Führen wir es also von unten
an durch die Formen der Entwicklung hinauf. In dem Sinne
aber ist eine mittelalterliche Chronik, eine Legende, ein Volks
buch, eine Reisebeschreibung oder eine Sage aus dem alten
Island ebenso gut und groß ein Kunstwerk als ein Drama von
Schiller, ein Roman von Freytag oder eine Novelle von Heyse.
*
Das habe ich so weit ausgeführt — und bin dabei bald in
eine zukünftige Abhandlung geraten — um denen vorweg zu
antworten, die sagen werden, die „W'anderer“ wollten ja die
schönen Grundsätze übern Haufen werfen, an die die Aus
schüsse sich bis jetzt gehalten haben.
Dann aber noch mehr um Interesse zu wecken und Mit
arbeiter aufzurufen : Daß jeder, dem unser Wollen nahe kommt,
sich entschließe zum Helfen. Jeder deutsche Heimatgau soll ja
mit seinen Sagen. Liedern, Chroniken und Erzählungen in den
Wanderern stehen. Da müssen also in jedem Stammesland die
Helfer w’ohnen.
Für die Rheinlande hat Gustav Kneist diese Arbeit mit
einem Sagenbuche begonnen und wird sie bald mit einem
Bande rheinischer Erzählungen fortsetzen. Für Sachsenland hat
Karl Röttger seine Mitarbeit zugesagt. Für all die anderen
reifen Äcker ist noch kein Schnitter gefunden. Und am Auf-